Berlin. FDP-Generalsekretär CHRISTIAN LINDNER gab den „Stuttgarter Nachrichten“ (Samstag-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte NORBERT WALLET:
Frage: Herr Lindner, wie viel Prozent ihrer eigenen Klientel finden die Sarrazin-
Thesen richtig?
LINDNER: Der große Nachholbedarf bei der Integration eines Teils der Zuwanderer
ist offensichtlich. Aber kein Liberaler kann mit der These einverstanden sein, dass
diese Probleme eine genetische Ursache haben. In diesem Punkt hat Herr Sarrazin sich
einfach verrannt.
Frage: Halten Sie es für angemessen, dass Sarrazin von SPD und Bundesbank
rausgeschmissen werden soll?
LINDNER: Als Vorstand der Bundesbank wäre Thilo Sarrazin zur Mäßigung
verpflichtet gewesen. Merkwürdig ist bei der SPD allerdings, dass sie es gewesen ist,
die ihn zuvor noch aus dem Berliner Senat zur Bundesbank befördert hat. Dabei
müsste der SPD-Führung aus der langjährigen Zusammenarbeit doch bekannt gewesen
sein, wie Herr Sarrazin denkt.
Frage: Nun muss der Bundespräsident entscheiden. Ist der ganze Vorgang nicht
inzwischen hoffnungslos überhöht?
LINDNER: Jedenfalls ist manches Empörungs-Tremolo genauso schädlich wie die
biologistischen Einschätzungen von Thilo Sarrazin selbst. Beides steht einer
nüchternen Beratung der Integrationsprobleme im Weg.
Frage: Bei Bürgern gibt es den Eindruck, da werde jemand abgestraft, weil er Dinge
beim Namen nennt.
LINDNER: Da darf es keine Legendenbildung geben. Deutschland redet mittlerweile
offen und problembewusst über Integration. Ich denke an die Debatten über
Kochtücher und Moscheebauten. Die verstorbene Jugendrichterin Kirsten Heisig hat
zudem gezeigt, wie man über dieses Thema besser schreiben kann. Ihr aktuelles
Bestseller-Buch benennt eindeutige Defiziten in der Integrationspolitik. Aber ihre
Kritik war konstruktiv und respektvoll. Bei aller Kritik verfolgen wir doch das Ziel,
dass aus Migranten Mitbürger werden, die alle Aufstiegs- und Lebenschancen haben.
Frage: Wo liegen denn Probleme, auf die die Politik noch nicht hinreichend reagiert
hat?
LINDNER: Mich besorgt, dass eine inakzeptabel große Zahl von Zuwanderern ohne
jeden Schul- oder Berufsabschluss bleibt und ihre einzige Lebensperspektive der
Bezug von Transferleistungen ist. Deshalb bin ich dafür, dass die Kindergärten in
sozialen Brennpunkten zu Familienzentren werden. Dort müssen Angebote zur
Sprachförderung und Integration weiter intensiviert werden. Eine Zielgruppe sind auch
die Eltern. Der Bund kann Ländern und Kommunen dabei helfen. In bestimmten
Stadtteilen muss auch die Autorität unserer Rechtsordnung wiederhergestellt werden.
Frage: Das heißt?
LINDNER: Frau Heisig hat aus ihrer Praxis als Richterin beschrieben, dass
mancherorts der Respekt vor Justiz und Polizei gesunken sei. Diesen Hinweisen sollte
man nachgehen. Alle müssen sich an die Regeln des Zusammenlebens halten. Für
jugendliche Intensivtäter mit und ohne Zuwanderungsgeschichte brauchen wir auch
neue Ansätze. Gute Erfahrungen hat man mit der geschlossenen Heimunterbringung
gemacht, die Erziehungsdefizite beheben und durch Förderung zugleich eine legale
Lebensperspektive eröffnen.
Frage: Thilo Sarrazin meint, der Staat liefere durch ausufernde Sozialleistungen
Anreize zum Einrichten in der Unterschicht. Hörte man das nicht auch schon mal aus
der FDP?
LINDNER: Unsere Debatte über den Sozialstaat vom Frühjahr hatte andere Ziele. Wir
wollen ja Aufstiegschancen durch neue Anreize schaffen. Für den Hartz-IV-Bezieher
muss sich ein Teilzeitjob einfach rechnen. Dann kann er auch Schritt für Schritt wieder
ins Arbeitsleben kommen. Deshalb verbessern wir die Hinzuverdienstmöglichkeiten in
diesem Herbst. Insbesondere um benachteiligte Kinder werden wir uns zudem
kümmern – egal, ob aus deutschen oder zugewanderten Familien. Das ist nicht allein
eine Frage der schon diskutierten Bildungskarte. Es gibt in allen Schichten Eltern, die
mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind. Sie brauchen Rat und Hilfe. Darüber
hinaus werden wir durch eine verbesserte Vermittlung den Missbrauch von
Transferleistungen erschweren.
Frage: Brauchen wir trotz der Skepsis in der Bevölkerung weitere Zuwanderung?
LINDNER: Ja, ausdrücklich. Und zwar aus Verantwortung für Wachstum und
Beschäftigung in Deutschland. Die Bundesregierung muss dazu Konzepte vorzulegen.
Schon heute kostet uns nach Schätzungen der Fachkräftemangel ein Prozent der
Wirtschaftsleistung. Das sind 20 bis 25 Milliarden Euro im Jahr etwa weil Ingenieure
fehlen. Angesichts des demographischen Wandels werden bessere Bildung und
Ausbildung allein nicht ausreichen. Schon heute scheiden mehr Menschen aus dem
Arbeitsleben aus als nachkommen. Deshalb brauchen wir ein intelligent gesteuertes, an
den deutschen Interessen ausgerichtetes Zuwanderungskonzept. Vor allem
Hochqualifizierte wollen wir einladen.
Frage: Warum sollten die angesichts unserer Debatten nach Deutschland kommen?
LINDNER: Weil Deutschland im internationalen Vergleich sozialen Frieden, eine
hervorragende Infrastruktur und wettbewerbsfähige, spannende Unternehmen hat.
Leider ist unser gesellschaftliches Klima gegenüber Leistungsträgern nicht sehr
freundlich. Dabei wollen wir genau die gewinnen.
Frage: Müssen sich dazu gesetzliche Rahmenbedingungen ändern?
LINDNER: Ja. Wir müssen die Einkommensgrenze für eine dauerhafte
Arbeitserlaubnis senken. Die liegt derzeit bei 66 000 Euro. Das ist zu viel.
Informatiker oder Ingenieure schaffen das als Berufseinsteiger nicht. Wir müssen die
Grenze auf etwa 40 000 Euro senken. Und wir brauchen ein Einwanderungssystem
nach Punkten. Das lässt eine präzise Steuerung zu.
Frage: Weitere Zuwanderung trotz der Stimmung in der Bevölkerung hält das Land
so etwas aus?
LINDNER: In dieser Frage verbietet sich jeder Populismus. Die Bundesregierung
sollte umgehend einen Aktionsplan mit konkreten Zielen zur Integration vorlegen. Es
geht um Maßnahmen wie eine intensivere Sprachförderung, lokale Bildungsbündnisse
und Weiterqualifikation. Unser Ziel muss sein, eine neue deutsche Identität der bunten
Republik zu etablieren.
Quelle: Liberale.de